Kardiovaskuläre Erkrankungen
Primärprävention mit Statinen bei HIV

Herz-Kreislauf-Erkrankungen rücken auch bei Menschen mit HIV immer mehr in den Fokus. Risikomonitoring und Primärprävention sind obligat. Nun gibt es erste konkrete Empfehlungen aus Europa und den USA zum Einsatz von Statinen zur Primärprävention.

Im Vergleich zu Menschen ohne HIV haben Menschen mit HIV ein zweimal höheres Risiko für atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bei der Diagnose einer solchen Erkrankung sind sie im Schnitt 10 Jahre jünger. Viele Faktoren tragen dazu bei, so eine höhere Prävalenz von klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren wie Rauchen und Adipositas, eine unzureichende immunologische Erholung trotz ART, toxische Effekte bestimmter antiretroviraler Substanzen sowie die kontinuierliche Entzündungsreaktion. Neben der Anpassung des
Lebensstils werden heute zur Primärprävention in der Regel Statine empfohlen. Der positive Effekt auch bei Menschen mit HIV wurde durch die Studie REPRIEVE gut belegt.

EVIDENZ

Tab. 1 Studie REPRIEVE. Number needed to treat (NNT) um ein Ereignis zu verhindern
Tab. 1 Studie REPRIEVE. Number needed to treat (NNT) um ein Ereignis zu verhindern

In der Studie REPRIEVE wurde der Nutzen einer kardiovaskulären Primärprävention mit einem Statin bei Personen mit HIV belegt. An der Studie nahmen 7.800 Menschen mit HIV auf einer stabilen ART im Alter zwischen 40 und 75 Jahren und einem geringen bis mäßigen kardiovaskulärem Risiko von durchschnittlich 4,5% und einem LDL-Spiegel von 107 mg/ml teil. Pitavastatin 4 mg/d reduzierte im Vergleich zu Placebo die Rate an schweren kardiovaskulären Ereignissen (MACE) um 40%. Alle Subgruppen profitierten. Der präventive Effekt korrelierte – ebenso wie bei Personen ohne HIV – mit dem Risiko. Je höher das Risiko, umso größer der Effekt. Bei einem Risiko >10% müssen nur 35 Personen behandelt werden, um ein MACE-Ereignis zu verhindern. Bei einem Risiko 2,5 bis <5% sind es dagegen 149, bei einem Risiko <2,5% 199 Personen (Tab. 1). Pitavastatin wurde gut vertragen, wobei Muskelprobleme (Grad 3 und höher) unter dem Statin etwas häufiger (2,4% vs 1,5%) waren ebenso ein neuer Diabetes mellitus (6% vs 4,7%).

RISIKO BERECHNEN

Vor Einleitung einer Primärprävention zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos, sollte dies zunächst berechnet und dokumentiert werden – auch wenn einige Fachgesellschaften empfehlen, jede über 40jährige Person mit HIV mit einem Statin zu behandeln. Die Risikokalkulation ist in jedem Fall sinnvoll, da hierbei weitere Erkrankungen und Interventionsmöglichkeiten erfasst werden, das Risiko (und damit der potentielle Nutzen des Statins) quantifiziert werden kann und ggf. zusätzliche individuelle Risikofaktoren (z.B. Kokaingebrauch, frühe ischämische Erkrankungen in der Familie, Lipoprotein A o.ä.) berücksichtigt werden können.

Tab. 2 ESC-SCORE2 und -SCORE2-OP Risikostratifizierung nach Alte
Tab. 2 ESC-SCORE2 und -SCORE2-OP Risikostratifizierung nach Alte

Zur Risikoberechnung stehen verschiedene Rechner/Algorithmen zur Verfügung. In den USA wird meist der ASCVD-Score benutzt. Die EACS empfiehlt den SCORE-Algorithmus der ESC (European Society of Cardiology) und zwar SCORE2 für 40-69Jährige und SCORE2-OP für über 70jährige ohne Diabetes, Nierenerkrankung oder familiäre Hypercholesterinämie (Tab. 2). Der Rechner ist online auf der Webseite der ESC verfügbar (www.escardio.org).

Die Konkordanz der verschiedenen Risikorechner schwankte in einer Vergleichsstudie erheblich zwischen 19% und 85%. Die meisten neueren Score-Rechner wurden in Studien an über 60jährigen Menschen aus Industrienationen validiert. Dennoch kann die Risikokalkulation auf alle Personen mit HIV über 40 Jahre übertragen werden, da in REPRIEVE Personen aus vielen Kontinenten und Ethnien in dieser Altersklasse teilgenommen hatten. Gemeinsam ist allen Rechner, dass sie die spezifischen Risikofaktoren von Menschen mit HIV wie die antiretrovirale Therapie oder die systemische Inflammation nicht berücksichtigen

Abb. 1 Amerikanischer Algorithmus zur Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen bei HIV

ASCVD = atherosclerotic cardiovascular disease; DM = diabetes mellitus; LDL-C = low-density lipoprotein cholesterol.
Rating of recommendations: A = strong. Rating of evidence: I = data from randomized controlled trials; II = data from
well-designed nonrandomized trials, observational cohort studies with long-term clinical outcomes, relative bioavailability/ bioequivalence studies, or regimen comparisons from randomized switch studies. (Adapted with modifications from the ACC.org with permission from www.acc.org/Latest-in-Cardiology/Articles/2024/08/01/01/42/For-the-FITs-Closing-the- Mortality-Gap-For-People-Living-With-HIV-Updated-Recommendations-For-Statins-For-Primary-Prevention-of-ASCVD.)

Abb. 1 Amerikanischer Algorithmus zur Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen bei HIV

INDIKATIONEN

Das amerikanische Leitlinien Panel empfiehlt, bei Menschen mit HIV über 40 Jahren bei einem 10-Jahres-Risiko von 5% oder höher eine Statin-Prävention einzuleiten (Abb. 1). Die EACS gibt die gleiche Empfehlung (Tab. 3). Die europäischen Kardiologen (ESC) und die britische HIV-Gesellschaft (BHIVA) gehen weiter und empfehlen für alle über 40Jährigen mit HIV ein Statin unabhängig vom kardiovaskulären Risiko und LDL-Cholesterin.

Tab. 3 EACS Algorithmus zur Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen bei Menschen mit HIV
Tab. 3 EACS Algorithmus zur Primärprävention von kardiovaskulären Ereignissen bei Menschen mit HIV

Bei einem Risiko <5% ist der Nutzen eines Statins vergleichsweise gering. Daher kann/sollte nach Nutzen-Risiko-Abwägung ein Statin mit einem eher gering lipidsenkenden Effekt in niedriger Dosierung eingesetzt werden. Jüngere Personen unter 40 Jahre waren in der REPRIVE-Studie nicht vertreten, d.h. es liegen keine Daten zu dieser Altersgruppe bei Menschen mit HIV vor. Im Analogieschluss zu den allgemeinen Empfehlungen sollte – neben Empfehlungen zur Anpassung des Lebensstils – eine primärpräventive Statintherapie erwogen werden bei einem hohen LDL-Spiegel (>190 mg/dl) und/oder frühen kardiovaskulären Ereignissen in der Familie. Möglicherweise spielt auch das Ausmaß des Immundefekts und die Dauer der HIV-Infektion als Risikofaktoren eine Rolle, deshalb könnten insbesondere Personen mit einer langjährigen HIV-Infektion, z.B. perinatal Infizierte, von einem Statin profitieren. Studien zu diesen Fragestellungen laufen bereits.

LDL-ZIELWERT

Blutabnahme nüchtern oder nicht?

Für die Messung des LDL-Cholesterins ist Nüchternheit nicht zwingend erforderlich. Die Nahrungsaufnahme hat keinen relevanten Einfluss auf den LDL-Wert. Sollen auch Nüchternblutzucker und Triglyceride mitbestimmt werden, empfiehlt sich die Blutentnahme morgens im nüchternen Zustand.

Der Zielwert für LDL-Cholesterin bei Statintherapie zur kardiovaskulären Primärprävention ist im Lauf der Jahre immer weiter gesunken. Heute gilt das Motto: je höher das Risiko, umso niedriger, umso besser, wobei stets auf die Nutzen-Risiko-Relation zu achten ist. Die amerikanischen Leitlinien nennen keinen konkreten Zielwert für LDL-Cholesterin bzw. verweisen auf die Leitlinien für Personen ohne HIV. Die EACS nennt als Ziel bei einem SCORE2 von >5% bis 10% (>2,5% für <50Jährige) ein LDL-Cholesterin von <70 mg/dl (<1,8 mmol/l) und eine Reduktion >50%, bei einem SCORE2 >10% (>7,5% für <50Jährige) einen LDL-Cholesterin von <55 mg/dl (1,4 mmol/l) und eine Reduktion >50% (Abb. 2).

Abb. 2 Zielwerte für LDL-Cholesterin in Abhängigkeit vom kardiovaskulären Risiko
Abb. 2 Zielwerte für LDL-Cholesterin in Abhängigkeit vom kardiovaskulären Risiko

WELCHES STATIN?

Tab. 4   Intensität der Lipidsenkung verschiedener Statine
Tab. 4 Intensität der Lipidsenkung verschiedener Statine

Statine werden entsprechend ihrer LDL-cholesterinsenkenden Potenz in verschiedene Gruppen eingeteilt, wobei der zusätzliche Effekt einer Dosissteigerung langsam abnimmt (Tab. 4). Eine Reduktion des LDL-Cholesterins um 39 mg/dl (1 mmol/l) entspricht in etwa einer Reduktion des kardiovaskulären Risikos um mehr als 20% und einer Reduktion der Gesamtmortalität um 10%. Die amerikanischen wie europäischen Leitlinien empfehlen bei einem Risiko >5% ein „moderat-intensiv“ wirksames Statin. Bei der Auswahl sind Wechselwirkungen mit der ART und anderen
Medikamenten zu beachten. Integrasehemmer der zweiten Generation und NRTI interagieren nicht mit Statinen. Ritonavir- bzw. Cobicistat-geboosterte Regime haben Wechselwirkungen mit der ART, Simvastatin und Lovastatin sind hier kontraindiziert. Pitavastatin ist in Europa nicht verfügbar. Rosuvastatin hat ein geringes Interaktionspotential (Tab. 5).

Tab. 5   Empfehlungen zu Wechselwirkungen von ART und Statinen
Tab. 5 Empfehlungen zu Wechselwirkungen von ART und Statinen

NEBENWIRKUNGEN

Statine werden in der Regel gut vertragen. Am häufigsten sind Muskelbeschwerden, die Häufigkeit wird in der Literatur mit 5-25% angegeben. Selten kommt es zu meist transienten Erhöhungen der Leberenzyme. Bei Nebenwirkungen eines Statins empfiehlt sich der Wechsel auf ein anderes Statin, das dann meist gut vertragen wird. Alternativen sind Bempedoinsäure mit/ohne Ezetimib sowie PSK9-Hemmer. In REPRIEVE war das Risiko eines Diabetes mellitus unter Pitavastatin leicht erhöht, betroffen waren insbesondere Personen mit prädisponierenden Risikofaktoren. Inwieweit dieser Effekt auf andere Statine übertragbar ist, ist unklar.


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Crossref

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ESC (European Society of Cardiology) Risikorechner SCORE https://www.escardio.org/Education/Practice-Tools/CVD-prevention-toolbox/SCORE-Risk-Charts


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