Lukas Arenz, Alexandra Weber, Jette Jung und Rika Draenert, München *
Antimicrobial Stewardship in der Notaufnahme
Antimicrobial Stewardship (AMS) und AMS-Programme (ASP) sind bereits in vielen Kliniken Deutschlands fester Bestandteil der stationären Krankenversorgung. Auch wenn dadurch das Bewusstsein für die Notwendigkeit rationaler Antiinfektivaverordnungen zunimmt, so bleiben die Herausforderungen für effektive ASP weiterhin sehr hoch. Jüngste Datenerhebungen zeigen für Deutschland einen erneuten Anstieg der Antibiotikaverschreibungen über das präpandemische Niveau hinaus, was wiederum die antimikrobielle Resistenzentwicklung (AMR) fördern kann. Die AMS-Anstrengungen sollten daher fortgesetzt und intensiviert werden.
Aktuelle Situation
Abb. 1 Gründe für hohen Antiinfektivaeinsatz in der Notaufnahme
Die Notaufnahme in Kliniken ist ein Bereich, der bisher nur teilweise oder auch gar nicht durch AMS-Programme (APS) adressiert wird. Etwa 80% der Kliniken in Deutschland verfügen über eine Notfallambulanz (Stand 2021). Hier kommt es jährlich zu ungefähr 12,4 Millionen ambulanten Behandlungen (zum Vergleich: 17,2 Millionen vollstationäre Behandlungsfälle 2023). Etwa 14-19% der PatientInnen haben eine Infektionsdiagnose. Verschiedene Studien zeigen, dass der Einsatz von Antiinfektiva in der Notaufnahme aus verschiedenen Gründen oft sehr rasch erfolgt (Abb. 1), die Substanzen aber gleichzeitig nicht optimal eingesetzt werden. Dies führt meist zu einem zu hohen Einsatz insbesondere von Antibiotika. ASP können in diesem Bereich also potentiell eine besonders große Wirksamkeit erzielen.
Interventionsplattform
Die Notaufnahme bietet sich aus mehreren Gründen als attraktive Interventionsplattform an. Es ergibt sich hier die besondere Möglichkeit neben dem stationären Bereich auch den ambulanten Sektor positiv im Sinne des AMS zu beeinflussen. Ein Merkmal der Notaufnahme ist außerdem ihre Multidisziplinarität. Besonders in großen Kliniken kommen neben den Hauptfachrichtungen Innere Medizin, Chirurgie und Neurologie auch kleinere Fächer wie Urologie und HNO hinzu. Dies ermöglicht ASP viele verschiedene Disziplinen zu erreichen. Zudem rotiert ein Großteil der weiterzubildenden ÄrztInnen gemäß der Weiterbildungsordnung regulär in die Notaufnahme. Dort erlerntes AMS-Wissen kann im besten Fall „zurück“ in die jeweiligen Kliniken übernommen werden und die AMR-Awareness in Krankenhäusern insgesamt deutlich steigern.
Herausforderung
Gleichzeitig macht eine Reihe von Besonderheiten AMS in der Notaufnahme aber auch sehr herausfordernd. Etablierte AMS-Interventionen wie z.B. regelmäßige Schulungsmaßnahmen in Präsenz sind auf Grund der hohen Personalfluktuation (Rotationen) sowie durch Schichtdienst und unterschiedliche Dienstmodelle nur sehr schwer für das gesamte Personal zu ermöglichen. Zudem ist das Behandlungsspektrum in der Notaufnahme, auch infektiologisch, sehr breit und reicht von eher harmlosen Infektionen der oberen Atemwege bis hin zum septischen Schock.
Einzelne Fortbildungen reichen also nicht aus, um das gesamte Behandlungsspektrum ausreichend abzudecken. Ein weiterer Punkt ist die Nachverfolgung der Krankheitsverläufe. Viele der in der Notaufnahme behandelten PatientInnen werden nach Hause entlassen oder in andere Kliniken verlegt und entziehen sich somit möglicher Anpassungsmaßnahmen. Insgesamt bedeutet dies für ASP, dass sie sich sehr flexibel an die Gegebenheiten der Notaufnahme anpassen müssen.
Breites Feld
Abb. 2 Aufteilung von AMS in der Notaufnahme in verschiedene Säulen
Die Arbeit in der Notaufnahme ist oftmals geprägt von der Notwendigkeit zügig über eine Therapie zu entscheiden. Dadurch kommt der kalkulierten antimikrobiellen Therapie eine besondere Bedeutung zu. Umso wichtiger ist es, adäquate mikrobiologische Diagnostik (vor Einleitung der Antiinfektivatherapie!) durchzuführen, um später die Therapie fokussieren zu können. Somit kann man AMS-Maßnahmen in der Notaufnahme in therapeutische und diagnostische Interventionen aufteilen. Hilfestellungen bei der raschen Identifikation von septischen Patient-Innen und deren Therapie sind auf Grund der hohen Mortalität des Krankheitsbildes ein sinnvolles Interventionsgebiet. Ebenso können je nach Zuständigkeitsverteilungen in den Kliniken auch hygienische Aspekte wie das Screening auf multiresistente Erreger und Isolierungsfragen in den Bereich von AMS in der Notaufnahme fallen (Abb. 2).
ESCMID Guideline
Im Jahr 2024 veröffentlichte die ESCMID Study Group for Antimicrobial Stewardship (ESGAP) eine Leitlinie zu AMS in der Notaufnahme. Dabei wurden vier praxisrelevante Hauptthemen herausgearbeitet und adressiert:
- Einfluss von Biomarkern und Schnelltests auf Antibiotikaverschreibungen und/oder das klinische Therapieansprechen
- Bedeutung der Abnahme von Blutkulturen bei ambulant erworbener Pneumonie, Harnwegsinfektionen und Haut- und Weichteilinfektionen
- Einfluss eines beobachtenden Vorgehens ohne kalkulierte antibiotische Therapie auf die Antibiotikaverschreibungen und/oder den klinischen Verlauf
- Einfluss von Behandlungs-Nachverfolgungs-Programmen (Sichtung und Kommunikation von ausstehenden mikrobiologischen Befunden) auf die Antibiotikaverschreibungen.
Niedrige Evidenz
In die Erstellung der Leitlinie ist sehr viel Arbeit geflossen. Die meisten Entscheidungen basieren jedoch auf einem niedrigen oder sehr niedrigen Evidenzniveau, was zu schwachen Empfehlungen oder lediglich best practice Statements geführt hat. Somit hat die Leitlinie teilweise Schwierigkeiten, überzeugende und allgemeingültige Empfehlungen zu geben.
Manche Empfehlungen der ESCMID Leitlinie regen dadurch zur Diskussion an. So wird beispielsweise der Nutzen von Legionellen-Antigentests aus dem Urin für Infektionen der unteren Atemwege in Frage gestellt. Eine Empfehlung für den Einsatz des Legionellen-Urintests wird nicht routinemäßig (schwache Empfehlung, sehr niedrige Evidenz), sondern nur bei Ausbruchsgeschehen oder dringendem Verdacht empfohlen. Im Gegensatz dazu spricht sich die deutsche Leitlinie zur ambulant erworbenen Pneumonie (CAP) bei hospitalisierten Patienten mit mittelschwerer oder schwerer CAP klar für den Einsatz des Urin-Antigentests auf Legionellen aus (Starke Empfehlung, Evidenz B).
Blutkultur
Die ESCMID-Empfehlung zur Entnahme von Blutkulturen für die Krankheitsentitäten ambulant erworbene Pneumonie (ohne Sepsis), Harnwegsinfektionen mit systemischen Inflammationszeichen (ohne Sepsis) und Haut- und Weichteilinfektionen (ohne Sepsis) bieten eine Hilfestellung zur Beantwortung der Frage, bei welchen PatientInnen diese Diagnostik sinnvoll ist. Insgesamt gibt es jedoch in Deutschland in dieser Hinsicht große Unterschiede: in vielen Krankenhäusern wird eher zu wenig Blutkulturdiagnostik durchgeführt (und oftmals auch falsch). Hier würde eine komplizierte Restriktion nicht unbedingt zu einer Verbesserung des Behandlungsergebnisses führen.
AMS in der Notaufnahme
- ASP in Kliniken sollten die Notaufnahme umfassen
- Mit effektiven AMS-Maßnahmen in der Notaufnahme besteht die Möglichkeit, PatientInnen mit Infektionserkrankungen bereits initial möglichst optimal zu behandeln und unnötigen Einsatz von Breitspektrumantibiotika zu reduzieren. Gleichzeitig können spezielle Sepsisprogramme die Identifikation und Behandlung von kritisch Kranken optimieren und deren Überlebenswahrscheinlichkeit steigern
- Für AMS in der Notaufnahme besteht die besondere Möglichkeit, den ambulanten und den stationären Sektor positiv zu beeinflussen
- Die Multidisziplinarität der Notaufnahme ermöglicht die gleichzeitige Schulung von verschiedenen Fachrichtungen und kann über die Notaufnahme hinaus auch institutionell ein großes Bewusstsein für AMR schaffen
- AMS in der Notaufnahme ist Teamarbeit. Vertrauensvolle Zusammenarbeit von AMS-Team und Notaufnahmeteam ist dafür eine wichtige Voraussetzung
- Die Erstellung von Behandlungsleitlinien zur kalkulierten antibiotischen Therapie in Kombination mit AMS-Visiten haben sich als effektive Werkzeuge erwiesen
- Forschungsaktivität im Bereich AMS in der Notaufnahme muss noch weiter gesteigert werden
Nachverfolgung
Eine starke Empfehlung wird für die Einrichtung eines Programms zu Nachverfolgung der Behandlung ausgesprochen, allerdings auch mit niedriger zu Grunde liegender Evidenz. Ein solches Programm informiert WeiterbehandlerInnen oder PatientInnen über die Ergebnisse der zum Entlassungszeitpunkt noch ausstehenden mikrobiologischen Diagnostik. Dies ist aus Sicht des AMS ein wichtiger Schritt, um die Anpassung der anti-mikrobiellen Therapie (Absetzen, Fokussieren, Initiieren) sicherzustellen. Eine Studie aus den Niederlanden zeigt beeindruckend, wie effektiv solche Programme sein können (Tuinte et al.). Hier wurden 455 PatientInnen mit Verdacht auf das Vorliegen einer Harnwegsinfektion und veranlasster Urinkultur in eine Studie eingeschlossen. Bei 63% dieser PatientInnen wäre eine Anpassung der Therapie nach Entlassung notwendig gewesen. Durchgeführt wurde diese lediglich bei 16% der PatientInnen. Durch ein Nachverfolgungs-Programm hätten im Mittel je 7 Antibiotikatage bei 103 PatientInnen eingespart werden können.
Heterogenität
Erschwert ist die universelle Anwendbarkeit von AMS-Strategien in Notaufnahmen auch durch das heterogene Leistungsspektrum und die sehr unterschiedlichen Organisationsstrukturen dieser Einrichtungen. Erfolgreiche ASP, die in einem Klinikum der tertiären Versorgungsstufe gut funktionieren, können beispielsweise für eine Notaufnahme in einem kleineren Haus gänzlich unpassend sein.
Auch auf dieses Problem bezieht sich die ESCMID-Leitlinie und gibt Hinweise und Ratschläge für erfolgreiche AMS-Implementierung, quasi ein „how to do“ für AMS in der Notaufnahme. Dies bietet eine nützliche Hilfestellung für AMS-Teams, die überlegen ein AMS-Programm in der Notaufnahme zu etablieren.
ASP etablieren
Abb. 3 Veränderung der Leitlinienadhärenz über vier Interventionszeitpunkte in der Notaufnahme am LMU-Klinikum, Campus Großhadern
Wie könnte nun ein erster konkreter Schritt für die Etablierung eines ASP in der Notaufnahme aussehen? Ein Ansatz, der sich für das LMU-Klinikum in München als wirkungsvoll erwiesen hat, ist die Erstellung einer hausinternen Leitlinie zur kalkulierten antibiotischen Therapie für die häufigsten Infektionserkrankungen in der Notaufnahme. Diese Leitlinie wurde vom AMS-Team unter Einbeziehung der entsprechenden Fachdisziplinen und des Notaufnahmepersonals erstellt. Im Format von Kitteltaschenkarten und Postern wurde die Leitlinie dann analog und digital zur Verfügung gestellt. Dies führte zu einer Steigerung der Leitlinienadhärenz für die infektiologischen Krankheitsentitäten ambulant erworbene Pneumonie, Zystitis und Pyelonephritis. Bedauerlicherweise war diese Zunahme der Leitlinienadhärenz nur teilweise nachhaltig. Durch die Einführung von multidisziplinären AMS-Visiten in der Notaufnahme konnte die Adhärenz im Verlauf wieder hergestellt oder sogar übertroffen werden (Abb. 3).
AMS-Visiten
AMS-Visiten in der Notaufnahme sollten an die individuelle Verfügbarkeit der verschiedenen Fachdisziplinen angepasst sein. Dies macht die Visiten für das AMS-Team sehr personal- und zeitaufwendig. Die direkte Interaktion von Notaufnahmepersonal und AMS-Team ermöglicht jedoch für den individuellen Patienten einen schnelleren Entscheidungsprozess sowie nachhaltigere Schulungseffekte für das Notaufnahmeteam.
Alternativen könnten auch moderne digitale Angebote sein. Diese reichen von Unterstützungssystemen für klinische Entscheidungen bis hin zu Smartphone-Apps, z.B. für den Einsatz einer adäquaten kalkulierten antibiotische Therapie. Diese werden künftig in immer größerem Ausmaß auch durch künstliche Intelligenz gestützt sein.
* für die Sektion Antimicrobial Stewardship der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie
- Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO). Der GKV-Arzneimittelmarkt: Klassifikation, Methodik und Ergebnisse 2024, Berlin, November 2024.
- Statistisches Bundesamt, Krankenhausstatistik 2021
- Statistisches Bundesamt, Krankenhausstatistik 2023
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